Manche Leute tanzen bereits 20 Jahre lang und tanzen nicht wesentlich besser als manche, die erst ein halbes Jahr tanzen. Wieso ist das so? Bzw. wie ist das möglich?
Seit einigen Jahren beschäftigt mich die Verbesserung der Lernfähigkeit bei Erwachsenen sehr – sowohl die motorischen und kognitiven Fähigkeiten. Denn beim Tanzen braucht man beides, oder?
Ich bin in meinen Recherchen auf sehr interessante Details gekommen und diese möchte ich in diesem Artikel mit der Community teilen.
Der Auslöser für den Artikel war unser Tänzer Garfield, der in unserer Social Dancing Community – FB-Gruppe diese Fragen gestellt hat:
Welche Tipps habt ihr für einen sinnvollen Zeitplan beim Erlernen neuer Techniken?
Weiters, wie schnell sollte man sein Level sinnvoll steigern?
Es gab ein paar interessante Antworten aus den Erfahrungen der Mitglieder der Community. By the way, du bist auch herzlich eingeladen, dieser (kostenlosen) FB-Gruppe beizutreten, um mit uns gemeinsam zu lernen und Erfahrungen auszutauschen. 😉
Der Titel des Artikels impliziert bereits, dass es eventuell möglich ist, eine Fähigkeit wie z.B. Tanzen in relativ kurzer Zeit zu erlernen.
Ist das wirklich möglich?
Und was heißt konkret Erlernen?
Das heißt, dass man eine Fähigkeit kompetent, sicher und selbstbewusst ausüben kann. So ausüben, dass man mit den häufigsten Eventualitäten, die vorkommen können, umgehen kann.
Wir sprechen hier nicht von Perfektion oder von dem „vollständigen Meistern“ einer Fähigkeit… Das ist eine andere Geschichte.
10.000 Stunden?
Ich habe schon früher diese bereits bekannte Theorie erwähnt, dass es ungefähr an die 10.000 Stunden braucht, um eine Fähigkeit (eine Sportart, Musikinstrument spielen, Tanzen) vollständig zu meistern und zu beherrschen.
10.000 Stunden heißt im Klartext 20 Stunden die Woche für 10 Jahre. Dann bist du top!
Viel Spaß!
Wen interessiert aber „top“, wenn man 10 Jahre mit einem vollen Einsatz dafür braucht?
Die meisten TänzerInnen wollen sich einfach sicher und selbstbewusst mit ihren PartnerInnen auf der Tanzflächen bewegen. Dadurch kommt der Spaß an der Bewegung, Musik und Interaktion mit anderen Menschen deutlich hervor.
Wenn man nicht so ganz weiß, was man da tut und auf Unerwartetes nicht wirklich vorbeireitet ist, dann ist man meistens unentspannt und man kann die Sache an sich nicht so richtig genießen. Stimmst du mir da überein?
Zumindest geht es mir selbst immer so, wenn ich gerade dabei bin, eine ganz neue Tanzrichtung zu erlernen und mich dann bei einem Social befinde, wo ich eine gewisse Leistung abrufen darf/muss/soll. Und die Komfortzone fühlt sich so groß wie eine Erbse an.
Die Pampers ist schon voll!
Kannst du das ein wenig nachvollziehen?
Ja?
Gratulation, du bist normal! 🙂
OK, genug Geschwafel! Gehen wir endlich zu den Fakten.
Diese These von 20 Stunden kommt ja nicht von mir, sondern aus dem Buch „The first 20 Hours“ von Josh Kaufman. Sehr empfehlenswert, wenn man sich dafür interessiert. Aber hier in Kürze (so weit ich so etwas überhaupt schaffen kann) die Essenz des Buches:
1. Man sollte die zu erlernende Skill (zb. Salsa Tanzen) in kleinere „Subskills“ zerlegen und sie definieren. Im Salsa-Beispiel wären das unter anderem:
- das Gefühl für den Rhythmus und das Timing,
- Wissen über die häufigsten Basic Figuren und deren (Aus)Führung
- Die Spinning Skills (eher rudimentäre Skills, keine multiple Spins)
- Die Floorkraft (wie gehe ich mit dem geringen Platz auf der Tanzfläche um)
- Social Partnering Skills (wie geht man mit unterschiedlichen Partnerinnen auf der Tanzfläche um)
2. Man sollte mehr Zeit mit dem (Aus)Üben der Skill sprich mit dem eigentlichen TUN verbringen als mit dem theoretischen Lernen (Informationen sammeln).
Das heißt so viel wie: Du solltest zwar natürlich in der Theorie wissen, wie etwas umzusetzen ist. Ja! Aber dann muss man einfach an die Sache ran und üben, üben, üben. Sprich Tanzen. Menschen tendieren (vor allem in der heutigen Zeit) so viele Informationen wie möglich über eine Disziplin zu sammeln, bevor sie es tatsächlich TUN.
Man braucht in Wahrheit nur so viele Informationen sammeln, dass man eine ungefähre Vorstellung hat, wie „das Ding“ aussehen soll. Danach ist es wichtig, einfach mit der Umsetzung zu beginnen. Tanzen. Auf diesem Weg kommen natürlich neue Fragen und Herausforderungen auf. Ist das passiert, schaut man wieder nach. Oder man fragt den Instruktor.
Danach ist wieder üben angesagt.. Es muss nicht perfekt sein. „Gut genug“ reicht vollkommen in dieser Phase.
In diesem Punkt muss ich mich auch selbst an der Nase ziehen. Sowohl in meinem Unterricht UND im eigenen Lernprozess.
Spätestens jetzt ist es amtlich – ich bin doch nicht perfekt, haha! 🙂
3. Man sollte sich seinen Lernprozess möglichst erleichtern, in dem man alle Hürden, Ausreden und Ablenkungen beseitigt.
Z.B. : die Tanzschuhe immer im Kofferraum haben oder sich die Tanzschuhe vor die Eingangstür stellen, dass man sie nicht übersehen kann… Manchmal brauchen wir „Tricks“ oder gewisse Trigger, damit wir dran bleiben, bzw. nicht abgelenkt werden. Der Lernprozess ist oft keine angenehme Angelegenheit, da wir unsere Komfortzone immer wieder verlassen (müssen), um etwas Neues zu lernen. Das gehört dazu. Wir müssen uns davor darauf einstellen und die Tatsache akzeptieren, dass wir zumindest am Anfang keine super elegante Figur abgeben werden.
Diese Phase vergeht aber sehr schnell. Dran bleiben.
Und ich weiß, es fühlt sich trotzdem nach einer Ewigkeit an…
4. Die wichtigsten Subskills mindestens über die Länge von 20 Stunden praktizieren/üben!
Wenn du glaubst, keine 20 Stunden „aushalten“ zu können, dann suche dir eine andere Disziplin aus. Einfach so. Denn das heißt einfach, dass dich diese Aktivität nicht wirklich interessiert.
20 Stunden sind z.B. drei Stunden die Woche über ca. sieben Wochen. Oder 45 Minuten jeden Tag über 2 Wochen.
Schaffbar?
Sag du es mir! Ich glaube schon…
Denn nach diesem Prozess erlangst du eben die Sicherheit, das Selbstbewusstsein und die Ästhetik, die man sich beim Tanzen normalerweise wünscht.
Schon gemerkt? Ein Begriff kommt immer wieder vor – Üben!
Aber was heißt das eigentlich konkret?
Üben ist ein breiter Begriff. Und nicht jeder Art von Üben bringt uns in unserem Vorhaben effektiv weiter.
Üben ist nicht gleich Üben
Um ein sehr guter Social Dancer zu werden, muss man gezielt, bewusst und fokussiert begleitet von einem qualifizierten Coach trainieren.
Anders Ericsson verwendet in seinem Buch „Peak“ den Begriff bewusstes Üben. Laut ihm,
ist dies die effektivste Art des Übens – bewusst zu Üben.
Das heißt, es ist zwar nett und toll, wenn du einfach zu einem Social tanzen gehst und die ganze Nacht durchtanzt. Deswegen werden jedoch deine spezifischen Tanzskills, die du gerade verbessern willst, nicht merkbar besser.
Außer, du schenkst deinem Tanzen eine gewisse Aufmerksamkeit und gehst dein Tanzen sehr überlegt an.
Laut Ericsson gehören 5 Kriterien zum bewussten Üben:
1. Klar definiertes Ziel der Übung. Z.B. ein Ziel wäre, 5 Basic Elemente immer wieder hintereinander zu tanzen ohne einen Grundschritt dazwischen tanzen zu dürfen. Ausbau wäre, dann dass man die Reihenfolge der Elemente immer wieder verändern muss, usw. Dadurch hast du ein sofortiges (eigenes) Feedback, ob du das Ziel geschafft oder verfehlt hast.
2. Volle Konzentration und Fokus auf die Übung und die richtige Ausführung. Nur durch die volle Aufmerksamkeit ist mit einem merkbaren Fortschritt zu rechnen. Keine halben Sachen.
3. Feedback holen. Entweder von außen (PartnerIn, Instruktor, ein Freund der zuschaut) oder ein Setup kreieren indem du dir selbst Feedback geben kannst, ob du die Übung gut gemacht hast. Wenn du es nicht messen kannst, wie sollst du wissen, ob du besser geworden bist?
4. Komfortzone verlassen. Wenn du in einer Aktivität schnell gut werden willst, musst du dich darauf einstellen, weit außerhalb der Komfortzone Lager aufzustellen.
Stell dir z.B. einen riesigen Bodybuilder vor. Um große Muskeln aufzubauen, musste er seeeeehr oft seine Muskeln an und manchmal über seine Belastungsgrenze bringen, um sie wachsen zu lassen. So ist es auch mit Lernen neuer Skills. Und Wachstum schmerzt manchmal…
5. Experten-Coaching. Um möglichst schnell (und nachhaltig) weiter zu kommen braucht man einen Experten, der den ganzen Prozess überwacht, der den Schüler wieder auf den richtigen Weg bringt, falls abgekommen. Der Coach muss den Schüler auch motivieren und ihm immer wieder neue Wege und Möglichkeiten zur Verbesserung aufzeigen. Der Coach ist eigentlich in erster Linie da, um die Strategie des Lernprozesses aufzustellen, die Umsetzung des Schülers zu beobachten und sie dann nach Beobachtung anzupassen, verschärfen, abspecken oder überhaupt einen anderen Weg einzuschlagen.
Alles klar?
Üben ist also doch nicht gleich Üben. Das heißt, wenn du nächstes Mal sagst, du warst Üben, denk noch einmal über diese 5 Kriterien nach und hinterfrage es noch einmal, ob du wirklich geübt hast. 😉
Und was ist mit Talent?
Mit oben erwähnten Instrumenten kannst du jedes vorhandene (oder nicht vorhandene) Talent an jedem gegebenen Tag übertrumpfen. Vor allem dann, wenn man dran etwas länger bleibt.
Wir haben so viele talentierte TänzerInnen kommen und gehen sehen. Aber alle, die es im Tanzen zu etwas gebracht haben, sind in erster Linie Streber! Gut gecoachte Streber, wohl gemerkt!
Ericsson schreibt: Wenn du einen guten Instruktor hast, der eine gute Methodologie in der gegebenen Disziplin entwickelt hat UND du ein bewusstes, gezieltes Training betreibst, bist du imstande, jede Skill zu meistern. Mit oder ohne Talent.
Klingt irgendwie logisch, gell?
Sprich, Talent sorgt nur für einen guten Start – nicht mehr und nicht weniger.
Effektiv vs. effizient
Zum Abschluss der ganzen Thematik ziehe ich noch ein Paar Gedanken vom Tim Ferriss, einem Bestseller Autor und ewigen Streber und egal welcher Disziplin. In seinem Buch „4 Stunden Koch“ beschreibt er im ersten Teil seines Buches den Prozess des Meta-Lernens – quasi die Wissenschaft des Erlernens einer Fähigkeit. Super interessant. Der zweite Teil ist ein wirkliches Kochbuch. Auch interessant.
In Kürze (bis jetzt bin ich darin kläglich gescheitert), Ferriss schreibt, dass fürs Lernen von etwas Neuem am wichtigsten die Effektivität (WAS) und dann erst die Effizienz (WIE) ist.
Was hilft dir die Fähigkeit, schnell eine Leiter hochzuklettern, wenn die Leiter an der falschen Wand lehnt?
Im Klartext, man muss sich vor dem eigentlichen Lernprozess Gedanken gemacht haben, wie effektiv diese Lernmethode für sein gewünschtes Ziel ist.
Nehmen wir ein Ziel aus dem Social Dance. Du willst z.B. möglichst schnell eine gute Figur bei den Socials abgeben und fähig sein, sicher und selbstbewusst mit unterschiedlichen PartnerInnen möglichst abwechslungsreich zu tanzen.
Um das zu erreichen, du schaust möglich viele YouTube Clips und sammelst 23 der coolsten Figuren, die du dann fleißig 2 Stunden täglich mit deiner Partnerin oder deinem Partner dann übst.
Wie nahe bringt dich diese Methode an dein ursprüngliches Ziel?
Wenn du bis jetzt tatsächlich auch gelesen hast und nicht nur geschlafen hast, dann weißt du es eh – nicht sehr nahe…
Aber es besteht eine gute Chance, dass du durch die 23 Figuren durchkommen kannst. Mit dieser einen Partnerin. Das ist aber ein anderes Ziel. Durchkommen durch Figuren, um sie abzuhaken. Verbraucht auch Kalorien. 😉
Für das oben genannte Ziel willst du aber wahrscheinlich am ehesten zu einem guten Instruktor oder in eine Tanzschule gehen, von denen du nur Gutes gehört hast. Von denen du glaubst, sie hätten die Methoden drauf, die dir zu deinem Ziel helfen.
Geht das aber auch ohne LehrerIn? Schaffe ich das alleine?
Klar. Nur sicher nicht so schnell. Und du läufst der Gefahr, von deinem Weg abzukommen, da du kein qualifiziertes Feedback bekommst. Der Motivationsfaktor einer regulären Stunde fehlt auch, da du dir selbst (und eventuell dem Partner) überlassen bist. Und und und…
Vielleicht denkst du dir, dass ich das jetzt schreibe, weil ich selber Lehrer bin und für meinen Berufsstand plädiere, um genug zum Essen zu bekommen.
Wahrscheinlich ist etwas davon tatsächlich dabei.
Aber der Hauptgrund ist, dass ich an meine Funktion als Lehrer glaube und tagtäglich sehe, wie unsere TänzerInnen von „bloßen Fußgänger“ zu raffinierten und geübten KünstlerInnen auf der Tanzfläche werden. Ihnen macht es enormen Spaß, und wir Tanzlehrer dürfen sie bei diesem Prozess begleiten, betreuen und ihnen immer wieder die nächsten Ziele und Wege dorthin aufzeigen.
Der großartigste und erfüllendste Beruf der Welt, wenn du mich fragst. Und ich fühle mich unglaublich dankbar dafür.
Aber das ist auch schon wieder ein anderes Buch. Genau, denn dieser Artikel ist auch schon wieder auf dem besten Weg, ein Buch zu werden.
Tja, was eine kleine Frage in der Social Dancing Community bewirken kann… 🙂
Danke, Garfield! 🙂
Ich hoffe, ich konnte das Thema des richtigen Lernens etwas aufklären. Kann aber auch sein, dass ich dich jetzt vollständig verwirrt habe. Das kann ich auch gut, haha.
Zusammenfassend:
Um möglichst effizient UND effektiv Tanzen zu lernen willst du gezielt, regelmäßig, bewusst und fokussiert üben und dich dabei von einem qualifizierten Coach begleiten lassen, der stets weiß, was das beste für dein gewünschtes Lernziel ist.
Jetzt denkst du dir sicher:
Na toll, und für diesen Satz musste ich 2000 Worte davor lesen? Ging es nicht in einem kurzen FB-Post?
Sicher!
Aber manchmal muss ich Sachen einfach zuerst schreiben, um zu wissen, was ich mir dabei gedacht haben, haha! Und da musst du manchmal auch durch. 🙂
Wie mein Opa zu sagen pflegt, von nichts kommt manchmal etwas Gutes raus, wenn man lange genug darüber schreibt.
Das wünsche ich mir zumindest, dass er es so gesagt hat. 🙂
Zurück zu unserem Thema…
Ein konkretes Beispiel für eine sehr effektive (und realistische) Herangehensweise wäre:
1-2 aufbauende Gruppenkurse pro Woche, einmal die Woche tanzen gehen (zielgerichtet 😉) und eine Privatstunde im Monat mit einem guten Instruktor.
Also, spätestens jetzt weißt du, WAS und WIE du es tun müsstest. Eine Ausrede weniger. 😉
Jetzt musst du einfach nur anfangen. Oder weiter tun… 😉